So geht es mir mit ME/CFS
Jeden Tag.
Jeden Tag kämpft mein Körper.
Denn ME/CFS ist eine körperliche schwere neuro-immunologische Erkrankung, die wie ein ganzes Heer an feindlichen Truppen gegen mich anzukämpfen scheint. In diesem Artikel will ich dir schreiben, wie sich diese Erkrankung körperlich und emotional anfühlt.
Dies ist natürlich meine ganz persönliche Erfahrung. Andere würden wahrscheinlich etwas anders berichten.
Als hätte ich eine starke Grippe, die nicht weggehen will
Meistens fängt CFS mit einem schweren Infekt an. Dieser Infekt scheint dann einfach nicht mehr wegzugehen. So auch bei mir. Jeder kennt dieses elende schlappe Gefühl einer Grippe.
Zu nichts zu gebrauchen.
Alles tut irgendwie weh.
Die Energie ist verschwunden.
So fühle ich mich, aber eben jeden Tag.
Jede Woche.
Jeden Monat.
Keine schöne Erfahrung.
Als hätte ich mit Erkältung einen 10km-Lauf hinter mir
Gleichzeitig ist es, als hätte ich Muskelkater und bin total erschöpft. So wie es anderen geht, nachdem sie körperlich alles gegeben haben – und das mit einer starken Erkältung dabei.
Mir geht es bereits so, wenn ich mich mal wieder geduscht habe oder zu lange auf den Beinen stand, um mir etwas zu essen zu machen.
Als ich nach langer Zeit mal wieder mit meinem Neffen geskypt habe, war ich anschließend total durchgeschwitzt und meine Energie ist nochmal um 50% gesunken. Ein typisches Symptom bei ME/CFS.
Als hätte man mir einen Bleimantel und dicke Gummibänder angelegt
Durch ME/CFS ist alles so schwer, so mühsam. Als würde ich ein schweres Gewicht tragen und bei jedem Gang zur Toilette ziehen Gummibänder an mir, die mich wieder zurück ins Bett und runter in die Horizontale zwingen wollen.
Wenn ich dann wieder auf der Matratze liege, ist alles einfacher und ich kann zeitweise sogar schreiben, wie gerade jetzt. Aber auch das ist nicht immer möglich, denn oft fühle ich mich …
Als hätte ich drei Nächte nicht geschlafen
Fast jede Nacht dieselbe Leier. Total müde und kaputt, aber ich schlafe lange nicht ein oder wache schnell wieder auf und träume in den Schlafphasen viel Unsinn.
So habe ich mir das nicht vorgestellt, als ich mir vornahm, für meine Frau der Traummann zu sein.
Egal um wieviel Uhr ich dann aufwache – ich habe das Gefühl, schon seit Tagen nicht mehr geschlafen zu haben. Und ich frage mich, wie ich den Tag nur überstehen kann. Denn so schlecht wie heute morgen geht es mir schon seit … gestern nicht mehr.
Als wäre ich ein Smartphone, dessen Akku kaputt ist
Der Akku ist eine oft gebrauchte Metapher für die CFS Krankheit. Beim funktionierenden Smartphone geht auch der Akku leer. Aber erstens braucht es meist lange bis der Akku leer ist und zweitens ist er relativ schnell wieder aufgeladen.
Bei mir dagegen ist der Akku ganz schnell leer und braucht dann ewig, um sich wieder um einige Prozent aufzuladen. Ich muss mir genau überlegen, welche App (Aktivität) ich nutze und welche Funktionen ich ausschalten sollte, um so viel Energie wie möglich zu sparen.
Als hätte ich Rheuma, Arthritis und Muskelkater zusammen
Mein rechter Zeigefinger schmerzt am meisten. Seit vielen Monaten. Dazu Schmerzen im Kniegelenk und rechten Arm. Bei Anstrengungen wird es schlimmer.
Untersuchungen konnten weder Rheuma noch Arthritis feststellen. Und doch tun mir oft Muskel, Glieder, Gelenke weh. Sogar ohne Anstrengungen. Aber schon beim Sitzen (statt Liegen) oder geringen Anstrengungen werden die Schmerzen schlimmer.
Als wäre ich 90 Jahre alt, der nicht mehr ganz so klar im Kopf ist
Wenn ich mal genügend Energie habe, schaffe ich einen kurzen Spaziergang durch den Park. Langsam. Am Stock oder einer Krücke. Und doch genieße ich diese Spaziergänge sehr.
Allerdings kein schönes Gefühl, von den alten Senioren überholt zu werden. Ja, im Grunde geht es mir mit CFS so, als wäre ich ein alter Mann. Manchmal wird mir schwindelig, ich vergesse Dinge, habe Wortfindungsstörungen, und alles ist viel langsamer als sonst. Nur dass ich noch keine Enkel habe
Als würde ich nicht älter sondern jünger werden
Nein, ich mache nicht ins Bett und bin auch kein Kleinkind. Aber mit diesem letzten Vergleich will ich mir und dir Hoffnung zusprechen. Denn mittlerweile habe ich zu viele hoffnungsvolle Geschichten gelesen, in denen CFS-Heldinnen und Helden wieder ganz geheilt wurden.
Außerdem gibt es auch bei den Nicht-Geheilten ganz viele Abstufungen. Manche leben mit 10% Akku-Kapazität, andere mit 50% oder gar mehr. Deshalb lebe auch in in der Hoffnung, mich irgendwann wieder frischer, jünger und lebendiger zu fühlen.
Apropos fühlen.
Es ist schwer zu sagen, welche Beschwerden schlimmer sind – die körperlichen oder die emotionalen. CFS ist keine Depression, keine psychische Erkrankung. Und doch macht sie natürlich auch emotional ganz schön zu schaffen und greift die Psyche an. Wie ich mich mit ME/CFS fühle?
Betroffen.
Das Wort passt auf beide Weisen.
Erst hat mich diese hinterhältige CFS Krankheit wie ein Giftpfeil getroffen. Seitdem kämpfe ich gegen dieses gemeine Gift an.
Und seitdem fühle ich mich betroffen. Ach, betroffen ist kein Ausdruck. Ich fühle mich frustriert, gedemütigt, allein gelassen und vergessen.
Fühle ich mich jeden Tag gleich? Nein. Jeder Tag ist irgendwie anders, und doch sind alle Tage so verdammt gleich.
Als ebenfalls Betroffene/r kannst du dich vielleicht mit einigen der folgenden Metaphern identifizieren und merkst, du bist nicht allein. Als Freundin oder Angehöriger kannst du dadurch ein Stück mitempfinden, wie es Menschen mit der CFS Krankheit geht.
Ich fühle mich wie in einem Mystery-Film, in dem nur der Hauptdarsteller den Geist sehen kann und alle anderen ihn für verrückt halten.
Es ist furchtbar Schmerzen zu haben, die aber kein Arzt lokalisieren kann und sie letztlich als Phantomschmerz ab tut.
Genauso habe ich mich oft gefühlt. Als Verzweifelter, der von den Ärzten nicht ernst genommen wird. Die Blutwerte schienen (damals noch) in Ordnung zu sein. Und irgendwie ist doch jeder mal müde, oder schwindelig oder übel oder fühlt sich krank.
Dass aber die CFS Symptome noch mal um ein Vielfaches intensiver ist, das kann man von außen schließlich nicht sehen.
Also “reiß dich zusammen, wie jeder andere auch! Den Geist, den du siehst, den gibt es nicht!”
Und so riss ich mich zusammen und tat das schlimmste, was man in der CFS Krankheit machen konnte. Ich ging weiterhin über meine sowieso schon engen Grenzen und forderte mehr von meinem Körper als ihm gut tat.
Ich fühle mich wie ein krankes Kind im Kinderzimmer, während die Freunde draußen spielen
Vor diesem letzten und schlimmsten Rückfall bereitete ich mich gerade auf einen mehrtägigen Kurs vor, den ich als Referent bald halten sollte. Gleichzeitig plante ich die ersten Reisen in verschiedene Länder, die ich in meiner Stelle als Projektleiter endlich mal machen wollte.
Und dann dieser Crash, der meinen Energie-Level von gefühlten 60% auf unter 10 % drückte.
Das Gefühl ist wie ein Kind, das sich so sehr auf den Nachmittag gefreut hatte, um mit seinen Freunden draußen zu spielen. Aber dann stellt die besorgte Mama Fieber fest und schickt mich ins Bett.
Vom Fenster kann ich manchmal ein Kinderlachen hören. Aber die Freunde sind zu weit weg. Und sie denken auch nicht dran, mal ans Fenster zu kommen und zu schauen, wie es mir geht. Dazu ist das Spielen zu aufregend.
Und so liege ich alleine im Zimmer und fühle mich von der Welt alleine gelassen.
Enttäuscht.
Frustriert.
Wütend.
Ich fühle mich wie in einen tiefen dunklen Brunnen geschmissen
Zeitweise ging es mir dann noch schlechter. Schwach und mit Schmerzen lag ich im verdunkelten Zimmer. Bildschirm-Licht, Geräusche oder gar Gespräche wären mir zu viel gewesen. Aber im Kopf war ich wach. Total müde und schlapp, aber trotzdem nicht fähig zu schlafen.
Immer mehr fühlte ich mich wie jemand, der mit seinen Freunden auf einer tollen Reise war. Und dann falle ich plötzlich in einen tiefen, dunklen Brunnen. Hier liege ich und höre, wie die anderen weiterziehen.
Das Leben zieht weiter, während ich hier unten liege. Alleine mit meiner Wut.
Wut auf das Leben.
Wut darauf, dass es schon wieder mich getroffen hat.
Wut darüber dass viele gar nicht merken, WIE dreckig es mir geht.
Ich fühle mich wie ein Kämpfer, dem man immer wieder ein Bein stellt
Was habe ich in den letzten 10 Jahren nicht alles versucht. Ich habe meine Ernährung nicht nur von links nach rechts umgestellt, sondern wirklich komplett verändert. Immer gesünder gegessen.
Mittlerweile bestimmt weit über 100 Bücher zu Gesundheits-Themen gelesen.
Auszeiten genommen.
Pausen eingehalten.
Stress vermieden.
Mit meiner Ernährungsweise und Lebensstil müsste ich eigentlich locker alle anderen gesundheitlich überholen und voller Vitalität durchs Leben laufen.
Stattdessen fühle ich mich, als würde man mir immer wieder ein Bein stellen. Hinterhältig, sodass ich gar nichts dagegen tun konnte. Und so liege ich wieder einmal am Boden und fühle mich gedemütigt.
Das Leben – und bestimmt auch einige Menschen – guckt hämisch grinsend auf mich herab. Und ich verstehe die Welt nicht mehr.
All die Motivationssprüche und vollmundigen Lebenstipps scheinen für mich nicht zu gelten. Egal, was ich tue oder glaube – am Boden liegen scheint für mich meine Lebensberufung zu sein.
Nein, ich fühle mich nicht immer so wie in dieser Metapher. Aber in der momentanen Lebensphase eben schon. Dieses Mal war es zu viel. Warum ist das Leben so unfair?
Und so war ich nahe daran, einfach am Boden liegen zu bleiben. Wozu noch aufstehen?
Glücklicherweise ist es anders weitergegangen.
Ich fühle mich wie ein Ehemann, der von seiner Frau liebevoll gepflegt wird
Nein, dies ist kein Gefühl. Dies ist Tatsache. Ein Umstand, für den ich wirklich sehr dankbar bin. Sowohl meine Frau als auch meine Töchter stehen mir liebevoll und mit ganz viel Verständnis und Rückhalt zur Seite.
Arbeitskollegen denken ebenfalls liebevoll an mich und schreiben mir ab und zu.
Und auch Familienangehörige stehen zu mir und kümmern sich um mich. Wie eben durch diese Website, die sie für mich als Team gestartet haben. Diese Seite der Medaille will ich nicht verschweigen. In all dem gefühlten Leid darf ich immer noch Gutes erleben. Viel Gutes. Und das will ich nicht vergessen.
Trotzdem darf und muss es auch möglich sein, seinen Schmerz heraus zu schreien und auszudrücken. Trauer zu empfinden und Wut zu äußern. Denn auch wenn ich die Familie habe, liebevoll gepflegt werde, und vom Bett auch noch diese Website mitgestalten kann:
Trotzdem geht es mir immer noch nicht gut.
Trotzdem liege ich immer noch die meiste Zeit am Boden (sprichwörtlich, denn mein Bett ist eine Matratze im Wohnzimmer).
Trotzdem guckt die Zuversicht immer nur sporadisch ins Zimmer und verschwindet dann wieder.
Deshalb will ich meinen Schmerz nicht verschweigen. Und ich wünsche, dass auch du (wenn du ebenfalls betroffen bist) Wege findest, deinen Schmerz zu äußern und deine Wut zuzulassen. Vielleicht hilft dies sogar, dass es uns körperlich irgendwann besser geht?
Meine persönliche Erfahrung mit CFS
Mein körperlicher Energie-Level liegt momentan gefühlt bei 10-15% (April 2020). Eine Momentaufnahme der letzten Monate. Es gab in den Jahren davor viele Zeiten mit 50 oder gar 60% Energie, in denen ich wandern konnte, 100% arbeitete, aber eben in der Freizeit nicht mehr viel tun konnte.
Aber das war schon viel.
Wieder an die 60% Lebensenergie zu kommen ist momentan ein Traum. Mich wieder besser zu fühlen und mehr Lebensbejahung zu empfinden, ist mein Traum. Aber an diesem Traum halte ich fest – und wenn es das letzte ist, was mich noch mit einem Traummann verbindet.
Auch wenn es lange dauert.
Und viele Versuche braucht.
Ich will hoffnungsvoll bleiben.
Bist du dabei?